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1992 - 2024
32 Jahre entwicklungspolitische Arbeit

 

Deutsches (Un-) Wesen In Paraguay
von Hermann Schmitz † 30.03.2019
25.05.04     A+ | a-
Der bekannte und bekennende Antisemit   Dr. Bernhard Förster, verheiratet mit Elisabeth Nietzsche, der Schwester des berühmten Philosophen, hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter anderem Paraguay bereist und dort, seiner Einschätzung nach, günstige Voraussetzungen für eine Kolonisierung durch deutsche „Übermenschen“ gefunden.

“Soll für die neue Gründung der Name einer
d e u t s c h e n Gemeinde zutreffen, so müssen wesentliche Vereinfachungen und Läuterungen des gesellschaftlichen Lebens angestrebt werden. Vielleicht lässt sich nicht gleich Alles von Anfang an erreichen,  aber die Zukunft N e u – D e u t s c h l a n d s  werden wir uns etwa in folgender Weise zu denken haben:
Das Recht ist der getreue Ausdruck der germanischen Vorstellung von Sitte und Gesetzlichkeit; es wird somit von jedem reifen geschulten Manne zu finden sein, ohne dass ein besonderes Studium einer sogenannten `Rechtswissenschaft `dazu erforderlich wäre, welches in vielen Fällen nur dazu führen würde, einfache Gemüther befangen zu machen und den gesunden Rechtssinn derselben zu verwirren .....“
und so geht es weiter in einem Aufsatz des Nietzsche – Schwagers, den er nach seiner Rückkehr 1885 verfasst, und der so endet:
„Das Auswandern wird trotz vielen Schwierigkeiten allen denen leicht werden, die ein Gefühl von der hohen Mission haben, welche sie durch ihr Thun und Leiden erfüllen helfen. Diese Mission heißt:
 
L ä u t e r u n g  u n d  N e u g e b u r t  d e r  M e n s c h h e i t   -
s o m i t  a u c h S i c h e r s t e l l u n g  d e r   m e n s c h l i c h e n   K u l t u r ! ”

Nicht unbescheiden die Ziele dieses wackeren Nazi-Vorläufers  -  armes Deutschland, armes Paraguay! Und ihr armen Kolonisten!
Nur wenig mehr als 40 Personen  bekam Förster zusammen, die nach einer beschwerlichen Reise endlich  -  und bis zuletzt nur per Schiff  über den Rio Paraguay und Nebenflüsse -  in ihrem mosquitoverseuchten Neuen Deutschland ankamen.
Elisabeth Nietzsche war mit von der Partie.  Sie vor allem verstand es geschickt, die ohnehin geschundenen und bettelarmen Kolonisten nach Strich und Faden auszunehmen.  (Bruder Friedrich soll nicht begeistert gewesen sein).
Die meisten Kolonisten suchten ihr Heil denn auch schnell in der Rück-Flucht  ins alte Deutschland.
Der mit wachem und kritischem Verstand ausgestattete Kolonist Julius Klingbeil hielt länger aus, ihm verdanken wir die
„Enthüllungen über die Dr. Bernhard Förster´sche Ansiedlung Neu-Germanien in Paraguay“       -   mit Glück habe ich das verschollene Werk aufgetrieben. Zitate aus über 200 Seiten einer wunderbaren Abrechnung mit den Machenschaften des germanischen Ehepaares:

„Die Colonisationswut ist wie eine Krankheit über unsere Bevölkerung gekommen und schlaue Köpfe wissen sich diesen Umstand zum Verderben deutschen Lebensglücks zu nutze zu machen .... Keiner anderen Nation kommt es in den Sinn, in jenem armseligen Lande zu colonisieren .... Der
Doctor Bernhard Förster führt mit seinen Genossen in Försterrode , der Stadt Neu-Deutschlands in Paraguay, ein bequemes Leben. Seine Arbeit besteht im Nichtsthun, im Abfangen von einwandernden Deutschen in Asunción.
... Meine eigenen, sowie die Erlebnisse anderer deutscher Auswanderer in Paraguay sind so trauriger und lehrreicher Art, dass mein Gewissen mich treibt, diese schonungslos, der vollen Wahrheit gemäß, zum Nutzen meiner Mitmenschen bekannt zu machen ....
Möge mein  Buch a u f k l ä r e n,  b e l e h r e n  u n d  w a r n e n!
(Berlin, Anfang 1889)

Nach diesem Vorwort  beschreibt Klingbeil dann minutiös das Leben und Wirtschaften in der Kolonie, manches liest sich wie ein Gedächtnisprotokoll. Er lässt kein gutes Haar an dem Siedlungsprojekt, viel weniger noch am Gebaren des „Kolonialherren“ und seiner Gattin.
Das Ergebnis gibt ihm Recht: Nach einer kurzen Phase leidlichen Auskommens  -  in der Blütezeit des Mate-Tee - Anbaus  ging es steil bergab mit   N u e v a  G e r m a n i a.
1974 wählten Ute und ich die Kolonie als eines unserer ersten Ziele für eine Fahrt ins Inland aus, mit Kind und Kegel und zwei Autos. Eine unvergessene erste Erkundungstour, damals noch durch weite Strecken Urwald und auf noch verwegeneren Straßen als heute. Wir kamen uns  wie die ersten Einwanderer vor  -  fast einen ganzen Tag brauchten wir für die 150 km von der Hauptstadt in eine andere Welt. Und doch eine Luxusreise verglichen mit dem  Abenteuer der Kolonisten hundert Jahre zuvor!
Was war von ihnen übrig geblieben?
Wir trafen auf heruntergewirtschaftete, völlig verarmte Landsleute. Etwa einhundert bis zweihundert Personen umfasste damals die deutsche Restgemeinde von Nueva Germania, aufgeteilt in Familien mit nur einer Handvoll Namen. Unsere Klischeevorstellung von den tüchtigen Deutschen, die es stets und überall auf der Welt zu etwas bringen, wurde arg ramponiert.
Ich erinnere mich an die Worte des Entwicklungshelfers Enns:
“ Hier lohnt kein großer Einsatz vor Ort, am besten ist Aussiedeln ....“
Wir besuchten einige Familien und waren bestürzt. Merkwürdig: Die armen Paraguayer gaben ein Bild ab, das uns zwar nicht gleichgültig, aber doch gewohnt war; die Deutschen in ihrem Elend aber berührten uns ganz besonders.
„Descendientes de alemanes“, Deutschstämmige  -   auch heute noch gibt es ein paar Dutzend davon in Nueva Germania  -  „alemanes de Alemania“, richtige Deutsche, allerdings nur wenige.
Einer ist Dr. Rudolf, vor 18 Jahren hier mal „vorbei gekommen und hängen geblieben“.
„Ehrlich gesagt, ich könnte Ihnen gar nicht genau sagen warum, wahrscheinlich am ehesten, weil ich hier tun und lassen kann was ich will  -  im guten Sinne.“
Ich warte eine Stunde im Hof  seines hübschen Hauses mit der angeschlossenen Praxis, die mit einem Schild „Sanatorio Alemán – Unico en Rayos X“ um Patienten wirbt. Nur bei ihm also kann man sich röntgen lassen. Das nutzt meinen geschundene Füßen aber gar nichts, deretwegen ich auch hier bin. Sie haben, warum auch immer, so viele Risse und Schrunden bekommen, dass ich kaum noch laufen kann. Der paraguayische Doctor Ramírez hatte nach einem Blick auf meine Fußsohlen knapp bekundet: „Hay que cambiar el ambiente!“
Wechsel der „Umgebung“ also. Ich hatte ihn genau verstanden, fragte ihn aber, ob ich jetzt etwa nach Deutschland zurück sollte, ich wäre doch gerade erst angekommen ...
Das war ein bisschen gemein, aber Ramírez machte den Spaß mit und empfahl mir noch mal eindringlich, Luft an meine Füße zu lassen ...
Ich gebe es ja nicht gerne zu, aber irgendwie hatte ich mehr Vertrauen zu einem „deutschen Arzt“, schließlich war ich ja auch in einer deutschen Kolonie. Und siehe da: Bei Doktor Rudolf bekam ich eine prima Salbe und den Rat, jede Menge Puder in die Socken zu füllen. Ich tat´s  -  und meine Füße gingen wieder besser.
Dr. Rudolf ist meinem Freund Bernd aus Köln wie aus dem Gesicht geschnitten.
Als er nach Behandlung der paraguayischen Patienten zu mir in den Hof kommt, möchte ich zunächst fast glauben, dass Bernd mir bis heute seinen paraguayischen Zwillingsbruder verschwiegen hatte.
Dr. Rudolf hat neben seinem Erwerbsberuf als Arzt viele Hobbies, eins besteht im Reisanbau  -  oder eher in Reisanpflanzungsversuchen.
Wir besichtigen seine Versuchsfelder unten in der Flußniederung des Aguaray – Guazú, die zur Zeit allerdings trocken liegen.
„Ich habe im letzten Jahr immerhin 1000 Kilo nach Brasilien verkauft.“ (Er meint vermutlich geschmuggelt) „Ist doch besser als Haschisch über die Grenze zu bringen.“ Als ich mich schon verabschiedet habe, trägt er mir noch eine Plastiktüte seiner besten Sorte Reis hinterher, die soll ich mit nach Deutschland nehmen.
Jeder ist zu Recht auf seins stolz, denke ich und nehme die Gabe an.
Vielleicht nehme ich den Beutel ja wirklich mit .....
Arnold besorgt mir einen Mopedfahrer,  der auch Hermann heißt, was mich zunächst sehr erstaunt. Doch dann denke ich, dass der Name hier vielleicht sogar besser passt als bei uns zu Hause. Hermanns Mutter, Frau Stern, ist freundlich, spricht gut deutsch und „verleiht“ ihren 16jährigen an den fremden Hermann, weil der so schlecht laufen kann und doch etwas von der Kolonie sehen möchte.
Zuerst muss ich mit meinem Namensvetter Milch holen, eine Kanne mit 2 Litern, die ich auf dem Sozius balanciere, wo ich doch schon ohne Milch Mühe genug habe, mich zu halten.
Dann fahren wir zum „Balneario Aguaray“, einem schönen Strand am nahen Fluss mit weißem Sand, jetzt im Winter allerdings verwaist. In der Nähe könnten wir, wenn ich Lust hätte, den deutschen „mecánico“ besuchen, schlägt Hermann vor.
Herr Hollstein wohnt  mit seiner paraguayischen Frau und 3 Kindern in einer alten Holzhütte, die er vor Jahren einem deutschen Siedlerspross abgekauft hat. Ein dürres Männlein, zunächst etwas schüchtern, lädt er mich auf seinen mit Zitrusbäumen  bestandenen Patio ein. Meine Neugier scheint er ganz normal zu finden. Erst mal pflückt er eine ganze Schüssel Mandarinen.
„Das sind die besten, ganz süß, die müssen Sie probieren.“
Vielleicht ist es gar nicht schlecht, dass ich in der nächsten halben Stunde mit dem Schälen und Essen seiner Mandarinen beschäftigt bin und nur hin und wieder eine Frage stelle. So erzählt Herr Holstein mir in einem Nonstop – Monolog seine Lebensgeschichte, als hätte er lange auf diese Gelegenheit gewartet.
Es habe ihn immer von Deutschland weg gezogen, dort habe er sich fremd und als Außenseiter gefühlt. Als erstes Ziel wählte er Mauritius, wo er sich ein paar Jahre durchschlug. Zurück in Deutschland, stieg er schon sehr früh in den Marihuanahandel ein.
„Ich war der ideale Typ für das Geschäft, keiner hat mir das zugetraut, ich habe viel Geld verdient.“
Schon denke ich: Kein Wunder, dass der in dieser Gegend gelandet ist  -  doch es kommt ganz anders.
Erst verbringt Hollstein noch drei Jahre in Venezuela, seine Lebensgrundlage bleibt das illegale Geschäftemachen. „Eigentlich eine schöne Zeit in diesem wunderbaren Land. Aber ich wollte immer mehr, wurde immer unruhiger, die Angst wuchs, und da beschloss ich:
Ich muss da raus! Und dann habe ich mich erwischen lassen, ich glaube mit Absicht.  Ich wollte einen Schnitt machen, und das waren die zwei Jahre Gefängnis, die ich bekam. Das fand ich in Ordnung, irgendwie hat mich das von einer Last befreit.“
Fortan konnte Herr Hollstein frei und offen leben, brauchte sich nicht mehr verstecken  - man hört ihm die Erleichterung jetzt noch an.
Er wollte nur noch seine Ruhe, hier in Paraguay hat er sie gefunden, wie er versichert. Doch wovon lebt er?
„Ich hatte mal eine Radiotechniker – Lehre angefangen, das kam mir hier zustatten. Ich repariere alles, was es in der Gegend an elektronischen
Geräten gibt. Das Schöne ist, ich habe keine Konkurrenz. Natürlich werde ich nicht reich dabei, bei den paraguayos ist nicht viel zu holen, aber ich komme klar. Jetzt repariere ich auch Radiosprechfunkanlagen von Estancias, das ist schon besser.“
So eine Anlage hat er gerade in Arbeit in seiner abenteuerlichen Werkstatt, die ein Foto wert ist. Was er da flickt und zusammenlötet, wäre bei uns längst im Abfall gelandet.
Seine Frau, eine gemütliche Dicke mit einem hübschen Gesicht, bringt uns Mbeyú, eine Art Pfannekuchen aus Mandiokstärke und Käse. Ich esse gern mit, steuere meine Notration Zuckerrohrschnaps bei, den wir mit Mandarinensaft mischen.
Abschied vom Landsmann Hollstein, den ich wohl nie mehr wiedersehe, den „cleanen“ ehemaligen Drogenkurier inmitten dieses Drogenparadieses ...
Hermann fährt mich auf seinem Moped zu meiner Straße in Nueva Germania zurück.
Zwei Ereignisse hält Nueva Germania  am Abend für mich bereit:
Im Ortsteil „San Roque“, einem „sozialen Brennpunkt“, wie man bei uns sagen würde, findet das Patronatsfest des heiligen San Roque statt. Arnold arbeitet dort mit schwierigen Kindern und Jugendlichen. Eine winzige „Capilla“ mit einem Grasplatz davor, improvisierte Bänke, Mütter, die einfachen Imbiss verkaufen und ein paar Getränke, wenig Licht (die den Sternenhimmel umso schöner leuchten lassen) und die ersten schüchternen Besucher.
Die eigentliche Ortsheilige aber ist Schwester Dolores aus Navarra in Spanien,  die für alles gesorgt hat und sich nun weiter sorgt, ob das Fest auch gelingt. Sie ist auf der Suche nach „números“, Beiträge für ihr Programm, da komme ich mit meinem Zauberdaumen gerade recht. Gern leiht sie mir ihr Moped, damit ich das Requisit für den alten Zaubertrick holen kann.
Arnold  moderiert  gekonnt  den Abend: Tänze,  Gedichte,  Zauber  und  Sologesang von Dolores (ein  Lied  wie  eine  Klage,  aus  ihrer  Heimat  Navarra,  sie  selber  ist  am  meisten  gerührt )  – mit vielen Pausen und Warten zwischendurch gehen die zwei Stunden schnell herum.
Die einfachen Leute sind dankbar, für sie ist dieses bescheidene Fest etwas ganz Besonderes in ihrem überwiegend tristen Alltag.
Wer aber hat bloß meine Plastikflasche mit der Cola-Rum-Mischung, eingeklemmt zwischen zwei Zaunlatte, entführt?! Mit gewisser Sorge halte ich Ausschau nach torkelnden Kindern.
Bei Don Gustavo Cubas  geht es jetzt erst richtig los. Neben meiner „Pension“, wo ich in einem Zimmerchen nächtige, hat er sein ansehnliches Haus mit dem Kaufladen, dessen gesamte Front mit Plakaten des Staatspräsidenten beklebt ist. Wie dieser ist auch Cubas ein Anhänger der herrschenden „Colorado“ - Partei, vermutlich ein noch glühenderer als der Präsident selber.
Er ist Vorsitzender der örtlichen Colorado – Sektion, hat Geburtstag und alle wichtigen amigos eingeladen. Meine Vermutung, dass der „gringo“ sein Fest zieren soll, erweist sich als zutreffend, stellt er mich doch großspurig als „Präsident einer bedeutenden deutschen Organisation, Repräsentant des deutschen Staates und Kollegen“ vor.  Besten Dank!  Aber wieso Kollege?
Nun, Cubas ist auch noch pensionierter Mathematiklehrer. Wird heute 52. Nur kein Neid  -  ich bin schließlich auch „jubilado“ ... Jetzt berechnet er vornehmlich seine diversen Nebeneinkünfte, als „Colorado“ - Boss sitzt man in Paraguay immer an der Quelle.
Meine heruntergekommene Kluft und meine Gummilatschen ( „cambio de ambiente“!) scheinen den Kollegen Don Gustavo nicht zu stören, ein paar Damen der Nueva Germania – „Oberschicht“ aber schon eher. Das beeindruckt mich allerdings überhaupt nicht, zumal die Musikgruppe jetzt sogar ein Lied zu meinen Ehren anstimmt: „Bienvenido, Señor estranjero“. Ich schaue die Damen triumphierend an, sonne mich in meinem Ruhm, genieße einen vom Hausherrn persönlich eingeschenkten dreifachen Whisky und freue mich im übrigen auf das Essen, am Spanferkel war ich nämlich schon vorbei gelaufen.
Ich bin nicht der Einzige, der hauptsächlich des Abendessens wegen gekommen war:
Wie auf Kommando stürzen sich etwa 50 Personen auf die üppige Mahlzeit, absolut zielstrebig und frei von jeder falschen Bescheidenheit. Meine Güte, was wird da zugelangt!
Die Frauen stehen in nichts den Männern nach, wie sie sich kräftig die Teller füllen und nach den besten Stücken des Spanferkels graben.
Die Reden sind schlagartig verstummt, nur noch Essensgeräusche. Ein fast gespenstisches Bild: Das Fest findet im Freien statt, es sind höchstens 10 Grad, alle sind dick vermummt, mein deutschstämmiger Tischnachbar Fischer hat die altmodische Schlägermütze bis tief in die Stirn und über beide Ohren gezogen. Manche hantieren mit Handschuhen, einer Dame rutscht deshalb ständig das Besteck aus der Hand.
Wer keinen Sitzplatz gefunden hat, isst im Stehen, das ist hier das Normalste von der Welt, nur einer wie ich scheint das lustig zu finden.
Die Musiker haben schneller gegessen,  sie spielen jetzt  Tafelmusik und gehen reihum.
Beim Nachtisch kommen noch mal Gespräche auf, die Zungen sind sowieso durch reichlich Alkohol gelöst. Nachbar Fischer, mein „Landsmann“,  ist so besoffen, dass ich sein Brabbeln auf deutsch kaum verstehe, ich nicke einfach immer nur. Einmal bekomme ich allerdings mit, was er lallt:
„Hier sehen Sie, wie in Paraguay angeblich gehungert wird.“ Er lacht sich halb tot über seinen tollen Witz .....  Mit Herrn Fischer ist aber schon der unangenehmste Bestandteil des Abends beschrieben. Natürlich waren auch nette Leute da, und das beschriebene Essen hatte auch etwas Unschuldig – Atavistisches, fast wie ein Stück Folklore.
Nach dem Essen ist übrigens schlagartig Ende der Vorstellung. Geradezu fluchtartig verlassen manche das Haus von Cubas, der das völlig in Ordnung zu finden scheint. Bald sind alle weg.
Ich stelle mir vor, unsere Gäste zu Hause täten das Gleiche: Die würde man doch nie mehr einladen, oder?!  Oder ist diese Landgesellschaft am Ende nur ehrlicher?
„Daniel el rubio“, der blonde Daniel,  ist gar nicht blond, aber mit einer Haarfarbe unterhalb von  schwarz ist man hierzulande schon „rubio“. Er ist Taxifahrer, so um die 20,  sieht auffallend gut aus, hat ein wunderbares Gebiss und ein breites, gewinnendes Lachen. Den ganzen Tag steht er an der staubigen Ecke an der Einfahrt von San Pedro und wartet  -  die meiste Zeit vergeblich  -  auf Taxikunden. Da kommt einer wie ich, der eine Fahrtgelegenheit und einen Begleiter sucht, gerade richtig.
Bei Landpartien in Paraguay ist es nämlich so: Oft hilft nur ein „Taxi“ weiter, will sagen irgendein Uralt – Gefährt, nicht selten ein Eigenfabrikat, mit dem man entlegene und von Bussen selten oder nie befahrene Strecken bewältigt. Für „gringos“ wie mich kommt als Vorteil hinzu, dass man dann gleich einen Begleiter hat zur Unterhaltung und zur Information  -   und manchmal auch als Schutz, gar nicht so verkehrt in Gegenden wie diesen.
Man handelt einen Preis aus, wobei die Zeit überhaupt keine Rolle spielt, damit sind vor allem Paraguays Arme reich gesegnet.
Daniel ist ein Glücksfall für mich, wir verbringen den ganzen Tag zusammen, er ist recht kundig und zeigt mir alles Interessante in der Umgebung. Aber Daniel  ist auch ein Unglücksfall, einer von den Zigtausenden in Paraguay: Er ist zwar äußerst fix und gescheit, aber das nützt ihm gar nichts in diesem Land und in dieser Gegend, seine Chancen auf Ausbildung und Beruf sind gleich null. Und so verplempert er seine Zeit mit Taxifahren, d. h. mit Warten und unfreiwilligem Nichtstun.
Ich mache mit Daniel Picknick  am weißen Strand des Rio Jejui, ein Stück Karibik mitten in üppiger Natur, so ein ambiente wäre für Besucher und Touristen ein verlockendes Ziel.
Aber wie sollen sie hierhin gelangen?! Und wie viel fehlt noch an Infrastruktur in diesem Land, um einen bescheidenen Tourismus anzukurbeln, der doch  -  bei allen Problemen die er mit sich bringt  -  von Nutzen sein könnte!
Aber die Tonnen von Soja, die werden irgendwie ihren Weg hier heraus zum paraguayischen Freihafen Paranaguá an der brasilianischen Küste finden, so viel ist sicher! Überall sehen wir die riesigen, für den Sojaanbau im Oktober „aufgebrochen“ Flächen, entweder als Urwaldrodung oder als umgewandelte Weide. Manche Strecken sehen richtig schrecklich aus und wie die Resultate von Gewalttaten. Die Sojaanbaufläche hat sich in den letzten fünf Jahren fast verdoppelt, bis hierher zum Rio Paraguay ist der Boom inzwischen vorgedrungen. Hier sieht man kaum noch einen Urwaldriesen.
Soeben hat Landwirtschaftsminister Ibañez  „categoricamente y definitivamente“ verkündet, dass die 3,20 Dollar Abgabe pro Tonne Soja für Baumwollbeihilfen ausgegeben werden sollen  - und nicht, wie von Staatspräsident Duarte Frutos fest versprochen, zugunsten Hunderter von Campesinosiedlungen ohne Gesundheitsversorgung, Schulen und weiterer Infrastruktur.
San Pedro ist „Zona Liberada, befreite Zone“  -   hört sich irgendwie gut an, heißt allerdings nicht weniger als dass hier die reine Willkür herrscht. Das Departament San Pedro ist „frei“ von Gesetz, von ordentlicher Polizei, von auch nur ansatzweise funktionierender Verwaltung und einem ebensolchen Zusammenleben. Hauptgrund ist die „Hierba Maldita“,  die verfluchte Pflanze Marihuana, die auf immer größeren, zumeist versteckten, Flächen angebaut wird. Sogar aus der Luft sind sie schwer auszumachen.
Vom  brasilianischen Grenzgebiet aus ist die „Yerba Maldita“, die verfluchte Pflanze,  inzwischen bis zum Rio Paraguay vorgedrungen. Brasilianische Drogenbosse, aber auch paraguayische Landbesitzer im Verein mit korrupter Polizei machen hier ihre großen Geschäfte. Die verelendeten Campesinos, denen zum Beispiel der Baumwollanbau kaum etwas einbringt, werden geködert: 1 Kilogramm gepresste Marihuana bringt 20mal so viel wie 1 kg Baumwolle  -  wer kann da widerstehen? Meist bleibt das Versprechen aber reine Theorie: Beim Verkauf der Droge gibt´s für das Kilo statt 20.000 Guaraníes nur 10.000, bei Protest auch mal gebrochene Knochen oder eine Kugel. Ein systematisch erzeugtes Klima der Angst befördert das Geschäft der Bosse. Auch auf diesem „alternativen Markt“ ist der arme Campesino der Dumme.
Schön sehen die Marihuanafelder aus, mit ihren zu dieser Jahreszeit gut entwickelten Sträuchern  in leuchtendem Grün unter vereinzelten Baumgruppen -  fast ohne große Umwege fahren Daniel und ich an einigen vorbei. Besser, sich nicht blicken zu lassen.
Am Abend kommen wir in Antequera an,  einem kleinen Städtchen und Flusshafen am Rio Paraguay, mit malerischen Sandwegen, die einen die miserable Infrastruktur solcher Orte leicht vergessen lassen  -  vor allem dann, wenn man nicht dort leben muss ...
Abschied von Daniel, ich habe das Gefühl, Tage mit ihm verbracht zu haben.
Gleich gegenüber dem verrotteten Landesteg ist die „pensión“ von Doña Rossana, ebenso alt und gebrechlich wie ihre Bude, aber liebevoll um die Gäste bemüht. Heute Abend sind es viele, nämlich sechs, weil morgen früh um 5 Uhr der kleine Flussdampfer nach Asunción ablegt.
Bisher meine „preiswerteste“ Übernachtung, ich zahle 10.000 Guaraníes, also 1,4o Euro, da ist das Wecken um vier und der „mate caliente“, der heiße Matetee zum Frühstück, schon drin.
Und er fährt wirklich, der kleine Dampfer  „Mandiyu-Pecuá“, 16  Stunden bis Asunción flussabwärts, mit zahlreichen Stopps unterwegs, meist an Estancias, wo Menschen und Gerät einfach vom Ufer aus über ein wackliges Brett an oder von Bord gelangen. Eine gemütliche Fahrt mit gemütlichen, geduldigen Passagieren, die lieber die längere, aber preiswertere Reise per Boot nach Asunción machen statt per Bus.
Viele Begegnungen und Gespräche mit der Bootsbesatzung, Estancia-Personal , Fischern, kleinen Händlern. Der alte „Sub-Oficial“ der paraguayischen Marine zu Zeiten des Diktators Stroessner, längst pensioniert, schwärmt von vergangenen Tagen: “Einen wie Stroessner kriegen wir nie wieder, dabei würde das Land heute dringend so einen Führer brauchen ...“
Und da taucht doch auch tatsächlich wieder der Name Josef Mengele auf. Der habe ihn dort oben auf seinem kleinen Stück Land am Fluss oft besucht, sei ein prima Mann gewesen.
Ist das zu glauben?!
Frau Gebhardt, Enkelin deutscher Einwanderer aus Hamburg, die in den Zwanzigerjahren hier oben in Barranquerita  eine kleine Siedlung gegründet hatten, bestätigt in bestem deutsch die Aussage des Sub-Oficials.
Von ihrer Hängematte aus hatte sie mich schon lange im Visier gehabt und in mir den Deutschen ausgemacht, der sich auf diesen alten Kahn verlaufen hat.
Der Unteroffizier und Frau Gebhardt kennen sich nur flüchtig  -  was sie hier und heute verbindet, sind Ziel und Zweck ihrer Reise: Einmal im Monat nämlich müssen sie in Asunción persönlich ihre Pension abholen, er die vom Militär und sie die Witwenpension von ihrem verstorbenen paraguayischen Mann, der einen höheren Polizeirang bekleidet hatte.
Was Frau Gebhardt in vielen Stunden alles erzählt, wäre einen ganzen Bericht wert. Vielleicht nehmen Ute und ich wirklich mal ihre Einladung an und besuchen sie in ihrem „kleinen Paradies“ in Barranquerita.
Um neun Uhr Abends legen wir in Asunción an der „Playa Montevideo“ hinterm Hafengebäude an. Die Rückkehr in meine „Pension Schrammen“ ist wie ein Wiederauftauchen in einer anderen Welt.

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